– Die Umsetzung: HERZ ÜBER KOPF –
Aber was ist schon außergewöhnlich und was ist normal, wenn es um das Leben und Sterben geht? Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen…
Am 1. April 2019 (kein Scherz!) lernte ich im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Hospizhelferin bei Horizonte e. V. eine Dame (Frau W.) telefonisch kennen, die ich bis dato noch nicht wieder loswerden konnte (ja, diese Formulierung wurde mir ausdrücklich so von ihr vorgegeben und erlaubt so abzudrucken).
Ein paar wenige Randfakten - zu ihrer Vorgeschichte - aus der Zeit vor unserer Begegnung:
Seit 7 Jahren darf sie sich bereits mit diversen Krankheiten und Krankenhausaufenthalten auseinandersetzen. Als sie Mitte Januar 2019 wieder einmal aus dem Krankenhaus entlassen wurde, lautete ihre „Aussicht“: Noch 2 bis 3 Wochen verbleibende Lebenszeit. Ihre Wohnung in NRW am Rhein musste sie aufgeben. Direkt aus dem Krankenhaus zog sie ins Haus zu einem ihrer beiden Söhne im MTK. Um das Ausräumen ihrer alten Wohnung sowie das Verfrachten der Habseligkeiten in die neue, konnte sie sich schon nicht mehr selbst kümmern. Das übernahmen ihre Kinder…
Zurück zu unserer Geschichte:
Der 8. April 2019 führte uns beide dann von Aug zu Aug in ihrer neuen Einliegerwohnung zusammen. Und mir war sofort klar, das wird eine spannende Zeit der Begleitung werden. Ihr ging es zwar mehr als dreckig, aber die erste Ansage, die ich bekam, lautete: „Ich lege Wert auf Pünktlichkeit und ich bin die Kapitänin auf meinem Schiff.“ Und da ich Klarheit, Offenheit und Herzensbegleitungen sehr wertschätze, bin ich bis dato als Lebens-Begleiterin bei ihr an Bord.
Bis Juli 2020 durften wir beide viele Tiefen - aber auch viele Höhen - gemeinsam meistern und durchleben. Allein darüber könnten wir etliche Episoden erzählen und Kinofilme drehen. O-Ton der Kapitänin hierzu: „Es dauerte wundersamer Weise nicht allzu lange, bis ich mich einer bis dato völlig Fremden tief öffnen konnte. Ein immer weiterwährender Prozess, den ich bis heute noch gar nicht richtig fassen und glauben kann. Denn so war ich bisher nie.“ Das tiefe Vertrauen sowie die Verbesserung ihres gesundheitlichen Gesamtzustandes wuchsen von Mal zu Mal. Gemeinsam Einkaufen fahren, auswärts Essen“gehen“, backen bis hin zu 2 Konzertbesuchen brachten immer mehr Lebensfreude in ihr zum Vorschein. Spektakulär sind nach wie vor unsere unendlichen Diskussionen, Gespräche und gegenseitige Sticheleien über alles was uns spontan in den Sinn kommt, und oft nach Vertiefung verlangt. Egal um welche Themen (persönlich, psychologisch, philosophisch, pädagogisch, religiös, medizinisch, heilend, musikalisch, politisch, unsinnig, witzig usw.) es sich handelt, die unterschiedlichen Blickwinkel darauf sind immer spannend und lehrreich für beide Seiten. Und der Gesprächsstoff zum Weiterlernen geht uns bis heute nicht aus. Liebe Leserin, lieber Leser, und glauben Sie mal ja nicht, dass wir immer friedlich einen gemeinsamen Nenner finden. Zitat von uns beiden: „Das wäre ja sonst auch langweilig und würde Stillstand bedeuten. Und wer will schon aufhören zu wachsen und zu lernen? Außerdem wollen wir ja auch auf gar keinen Fall Freunde werden...“
Im Juni 2020 festigte sich bei ihr ein letzter großer Wunsch: „Ich möchte noch einmal ein Zimmer mit Meerblick, und zwar mit Ihnen als Begleiterin.“ Ach herrje, dachte ich, wie sollen wir das denn bewerkstelligen? Zumal es für solche Wünsche weder eine Vereinbarung, noch eine konkrete Vereinsversicherung gibt. Auch in den Satzungsrahmen des „Wünschewagen-Angebotes vom ASB“ (bezüglich der mehrtägigen Reise) passten die Kapitänin und ich nicht hinein. Ganz zu schweigen von der aktuellen Lage mit Corona und den Deutschen Sommerferien. Und nun? Sollte ich einfach sagen, dann wird’s nichts?
Das ging mit meinem Herzblut und meinem persönlichen Anspruch von Lebens-Begleitungen nicht konform! Es begannen für mich folglich Tage und Nächte mit Brainstormen, Telefonaten, Gedankenaustauschens, Netzwerksuchens, Anpassen der Vorsorgevollmacht, Updaten des Notrufknopfes von „zu Hause“ auf „Deutschlandweit“ und Vieles mehr; samt vielen Fragezeichen. Nach etlichem Abwägen und doch noch auftauchender Visionen, waren „plötzlich“ Teillösungen greifbar:
Ein Hotelzimmer mit Meerblick in Damp an der Ostsee (vom 23. Juli bis 01. August 2020). Herzlichen Dank fürs Findenhelfen, liebe Uschi Best; Inhaberin der grandiosen Reiseagentur „Geomare“ in Lorsbach!
Aber wie kommen wir beide nun inklusive Gepäck, Rollator/Rollstuhl sowie meinem Hund Barny plus Körbchen an die See? Und wenn`s sein muss (Aussage der Kapitänin) auch wieder zurück in den MTK? Denn für mich wurde eines plötzlich klar: Die komplette Strecke alleine als Fahrerin hätte mich überfordert, nach den intensiven Vorabplanungen…
Wie wertvoll, dass ich seit über 16 Jahren in der SeniorenNachbarschaftsHilfe e. V. Hofheim (SNH) aktiv mitwirken darf. Vielleicht wäre es ja möglich, von dort einen ehrenamtlichen Fahrer zu bekommen? Meine Anfrage an Herrn Kilian (Vorstandskollege von mir), inwieweit unser Vereins-Fahrerpool dahingehend offen sein könnte, wurde nach nur kurzer Überlegungszeit beantwortet mit: „So eine außergewöhnliche Geschichte, in einer so außergewöhnlichen Zeit kriegen wir doch irgendwie unterstützt.“ Und er gab mir ein paar Namen von in Frage kommenden Fahrern. Ganz herzlichen Dank dafür, lieber Kollege!
Schon beim ersten Telefonat wurde ich fündig. Herr Thielsch sagte zu, uns zu shuttlen. Und er entpuppte sich als weltbester Chauffeur, den wir uns nur wünschen konnten. Er fuhr uns, nach einem Probe-Pack-Treffen, mit einem Mietwagen - den er Gott sei Dank im Internet für uns klar gemacht hatte - an unser Ziel. Welch` ersparte Recherchezeit in dieser Hinsicht für mich, uff. Es passte alles haargenau ins Auto rein. Sogar wir selbst (grins) hatten noch genügend Platz. Auch um den Abstand zu gewähren, den Corona samt Mund-Nasen-Schutz forderte.
Am späten Nachmittag des 23. Juli 2020 erreichten wir unser Ressort in Damp. Nach der „Wagenleerung“ ging es für unseren Chauffeur nach Kiel, wo er den Mietwagen zurückgab und mit dem Zug wieder nach Hause fuhr. Als absoluter Eisenbahnfan für ihn ein regelrechter Genuss nach der langen Autofahrt. In meinen Vorgesprächen mit Herrn Thielsch konnte ich schon seine Leidenschaft „rund ums Eisenbahnen“ heraushören. Das gab mir zusätzlich ein gutes Gefühl über die gemeinsam gestrickte Shuttle-Variante. Denn Hilfegeben soll unbedingt auch viel Freude bringen!
Endlich! Da saßen wir nun, die Kapitänin, Barny und ich: 10 Tage im und um das Hotel herum, und komplett auf uns alleine gestellt… Wir erlebten vor Ort verdammt viele bewegte und bewegende Situationen, die wir hier natürlich nicht preisgeben können und möchten. Aber ein paar wenige Bilder veröffentlichen wir gerne, denn sie spiegeln ein paar Highlights wunderbar wider.
Am 01. August 2020 kam dann die große Heimfahrt für uns. Herr Thielsch reiste bereits am Vorabend mit „seiner“ Eisenbahn nach Kiel, verbrachte dort einen schönen Abend rund um den Hafen, holte am folgenden Morgen den Mietwagen in Kiel und anschließend uns in Damp am Hotel ab. Abends waren wir Alle wohlbehalten wieder daheim und um viele neue und erfüllende Erfahrungen reicher!
Für die spontane und unkonventionelle Hilfeleistung sowie das mir damit geschenkte Vertrauen und Wertschätzen, war es der Kapitänin und mir ein großes Bedürfnis, der SeniorenNachbarschaftsHilfe e. V. in Hofheim (SNH) eine Spende in Höhe von 400,00 € zu übermitteln. Tausend Dank für diese großartige Unterstützung!!!
Für „meinen“ SNH-Verein entstanden weder Kosten noch ein Versicherungsrisiko. Es fühlt sich nach wie vor wunderbar für mich an, so lange schon diesem Verein anzugehören und in ihm mitwirken zu dürfen. Die gegenseitigen Hilfestellungen und Hilfeleistungen, gemäß unserem Vereinsslogan „von-mit-für-Menschen“, sind mehr als Geld und Gold wert. Nicht zu vergessen, wie viele tolle Freundschaften schon unter all den aktiven und passiven Mitgliedern wachsen durften.
Wieder zurück in die Erzähl-Reihe:
Kaum zu Hause wieder im MTK, schwappte schon der nächste Wunsch der Kapitänin an die Oberfläche: „Ich will jetzt aber auch noch meinen 70. Geburtstag erleben.“ Und was soll ich berichten, auch dieser Wunsch ging am 27. August 2020 in Erfüllung. Ein wunderschöner Tag im Kreise ihrer engsten Familie!
Heute, am 20. September 2020, im herrlichen Sonnenschein in meinem kleinen Garten, beim Formulierungsbeginn dieses Artikels, fragte ich Frau W. (die ich nun schon so lange täglich am Ohr - oder sollte ich besser sagen, am Funkgerät - habe) nach ihrem nächsten Wunsch! Ihre Antwort lautete wie aus dem Megafon: „Gute Luft und endlich mal wieder einen kleinen Ausflug.“ Na, da wird uns gemeinsam doch bestimmt was einfallen. Zur Not auch mit etwas Nachdruck meinerseits. Denn seit unserer Seerückkehr konnte die Kapitänin ihr Schiff (das Haus samt Grundstück) nicht mehr verlassen…
Ahoi und ganz herzliche Grüße von der Kapitänin Frau W. und ihrer Begleiterin Ulrike Weise JJ
Zum Abrunden noch mein ganz persönlicher Nachtrag:
Wenn jemand von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine Rückmeldung/Impulse loswerden möchte: sehr gerne! Gerne teile ich auch persönlich mit Ihnen mein erfahrenes Begleiter-Wissen, auch rund um meine Planungen und Vereine sowie beantworte aufkommende Fragen.
Jeden offenen und persönlichen Austausch betrachte ich als wertvoll, denn jedes Netzwerk darf meiner Meinung nach voneinander profitieren. Und auch vermeintliche Rahmen dürfen gerne mal herzVOLL gesprengt oder neu gefunden werden. Denn wir leben hier auf Mutter Erde und sitzen damit alle gemeinsam in „einem Boot“! Es ist immer Zeit, Herzen sprechen und führen zu lassen.
Meine mit diesem Bericht einhergehende Hoffnung ist es auch, vielen Menschen Mut zu machen. Mut über die eigenen Schatten zu springen, Wünsche und persönliche Themen offen zu artikulieren und dem Leben und den Menschen zu vertrauen! Ohne Angst über eine sowieso ungewisse Zukunft! Miteinander Wachsen kann nur stattfinden, wenn jeder Hilfesuchende klare Wünsche äußert sowie jede/r Hilfegebende klar signalisiert, inwieweit sie/er zur Erfüllung beitragen kann. Das trifft übrigens für mich auf jeden Bereich des Seins zu, sowohl privat, beruflich als auch öffentlich. Und nein, ich bin weder ein besserer noch ein schlechterer Mensch als alle anderen hier. Wenn ich aber dazu motivieren kann, mehr Herzen sprechen zu lassen, freue ich mich.
Denn im Laufe meines Lebens durfte ich vielfach lernen und auch bitter erfahren, dass mich mein reichlich erlerntes Wissen, Titel, Zertifikate usw. weder gänzlich vor Krankheiten noch vor Verlusten schützen konnte und kann. Dass aber Mitfühlen und ein Miteinander sehr wohl vieles heilen und erträglicher machen kann. Meine ganz persönliche Biografie steckt natürlich hinter all jenem; sie hat mich zu derjenigen werden lassen, die ich jetzt bin. Bei dieser Gelegenheit: Ganz herzlichen Dank an alle Seelen und Herzen, die mich die 51 Jahre meines irdischen Daseins begleiten!
Falls unter den Lesenden hier Mitglieder der SNH sind, können sie sich sicherlich daran erinnern, wie ich jahrelang die Mitgliederzeitungen beendet habe. Richtig: Mit einem Spruch, der mir zu Herzen geht. Heute kommt dieser aus der Feder des von mir verehrten Dalai Lama: „Materieller Besitz und angenehme Lebensumstände können uns kein dauerhaftes Glück bescheren.“
In diesem Sinne, bleiben Sie sich selbst - und Ihren Mitlebewesen - gewogen und herzVOLL zugewandt.
Ihre Ulrike Weise
„ErUli`s kleine ♥-Füll-Reise“
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